11 Sekunden: Dies ist die Zeit, die Ihnen Ihr Arzt lässt, um den Grund für Ihren Besuch zu erklären

« Also, was fehlt Ihnen? », fragt der Arzt. Dies ist ein entscheidender Moment der Sprechstunde. Der Punkt, an dem der Patient seine Geschichte erzählen muss. Symptome, Sorgen, Schmerzen, Gefühle, Eindrücke, Auswirkungen auf Alltag, Arbeit, Familie und soziale Beziehungen…

Leider wird diese Geschichte im Durchschnitt nur 11 Sekunden dauern, bevor der Arzt sie unterbricht und die Kontrolle über die Sprechstunde wieder übernimmt. Das ist jedenfalls der Befund eines Forscherteams, das die ersten Minuten des Gesprächs zwischen Patienten und ihren Ärzten analysiert hat. In 54% der Fälle gaben Ärzte ihren Patienten nicht einmal die Möglichkeit, sich frei auszudrücken, sondern stellten ihnen mehr oder weniger geschlossene Fragen (d.h., Fragen, bei denen die Auswahl an Antworten begrenzt ist wie "Haben Sie Schmerzen? "oder "Schlafen Sie gut"?

Zur Entmenschlichung der Schulmedizin?

Vor zwanzig Jahren haben mehrere Studien eine weitere, noch sehr niedrige, aber deutlich höhere Zahl von etwa 21 Sekunden vorgelegt, ein Zeichen dafür, dass die moderne Medizin ihren Weg Richtung Entmenschlichung fortsetzt. Auch wenn es offensichtlich Ausnahmen gibt, wird die Rede des Patienten immer weniger geschätzt. Im Gegensatz zur Verschreibung von Medikamenten und vor allem komplementären Tests, die noch nie so hoch waren. Von nun an sind es diese Untersuchungen, die anstelle der Patienten eine Geschichte erzählen. Aber es ist eine Geschichte, die nur an objektiven biologischen oder morphologischen Störungen interessiert ist, d.h. messbar, und die vor subjektiven Problemen wie Stress, Sorgen, chronischen Magenschmerzen, Schlafstörungen, Stimmungsstörungen, zwanghaftem Verhalten verschont bleibt... All das im Grunde, was unter den Begriff "Bagatellschäden" fällt, jene kleinen Symptome, die für Ärzte " Zeitverschwendung " bedeuten und so schwer zu entschlüsseln sind. Deshalb würden immer mehr von ihnen gerne auf all die kleinen Probleme verzichten, die ihrer Meinung nach auf den nächsten Morgen, die Woche danach oder sogar auf unbestimmte Zeit problemlos aufgeschoben werden könnten. Diese Ärzte sind auf der falschen Spur: persönliche Gesundheit, menschliche Beziehungen und Umweltfaktoren (Nahrung, Stress, persönliche Wünsche usw.) sind ständig und eng miteinander verbunden.

Wenn man müde ist, sagen wir mehr als sonst, liegt es daran, dass man krank ist, ein Familienproblem hat oder überarbeitet ist? Oder vielleicht alles auf einmal? Wenn jemand Bauchschmerzen hat, handelt es sich dann um eine Krankheit oder Angst, die durch die Senkung der Schmerztoleranzschwelle Schmerzen hervorruft, die das Gehirn normalerweise nicht wahrnimmt? Wie schafft man es, diese kleinen Probleme zu verstehen und geeignete Therapieansätze vorzuschlagen, indem man dem Patienten nur 11 Sekunden überlässt? Die Rolle des Arztes besteht normalerweise darin, dem Patienten zuzuhören, der seinem Herz Luft macht, ohne ihn jemals zu verurteilen. Es geht nicht darum, das Medikament zu identifizieren, das am relevantesten sein könnte, sondern dem Patienten zu helfen, die Unterscheidung zu treffen, die normalen physiologischen oder pathologischen Phänomene zu identifizieren, einfache und zugängliche therapeutische Ansätze vorzuschlagen. Mit einem Wort, die eigene klinische Erfahrung sowie seine medizinischen (und menschlichen!) Kompetenzen in den Dienst einzigartiger Beschwerden und Lebensgeschichten zu stellen.

Eine Umverteilung der Sprache in der Komplementärmedizin

Ganz anders sieht es derzeit in den Arztpraxen aus. Die überfüllten Warteräume und die Geschwindigkeit, mit der die Sprechstunden vorangetrieben werden, lassen viel Raum für Frustration. Die Frustration, nicht alles sagen zu können, nur in seiner körperlichen Dimension betrachtet zu werden, nicht verstanden zu werden und manchmal sogar beurteilt zu werden. « Als ich dem Kardiologen von meinen natürlichen Behandlungen erzählte, lachte und neckte er mich und machte mir klar, dass ich naiv war, an diese Art der Behandlung zu glauben » sagt Michaela, ein Fan von Kräutermedizin. Grundsätzlich sind Ärzte entschuldbar: das System, das sie erzogen hat, ist untergraben durch allzuhäufige Verschreibung von medikamentösen Behandlungen , von denen wir uns fragen, ob sie nicht zuerst denen zugute kommen, die sie verschreiben, und den Unternehmen, die sie herstellen. Es ist dieses System, das sie dazu drängt, bis zu 60 Stunden pro Woche zu arbeiten, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, den Menschen in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. In den kommenden Jahren könnte sich die Situation sogar noch verschlimmern, da sich der Mangel an Ärzten abzeichnet und mehrere Gewerkschaften auf der ganzen Welt bereit sind, den Beratungspreis entsprechend der Anzahl der "Probleme" des Patienten zu erhöhen.

Dieses Bedürfnis zu sprechen und verstanden zu werden, führt diesen nun zu anderen Praktikern, die die Rolle von Ernährung, Stressbewältigung und Lebensstil für die geistige und körperliche Gesundheit der Menschen erkennen. Sie sind Psychologen, Akupunkteure, Ernährungswissenschaftler, Naturheilkundler, Hypnotherapeuten, Träger von Heilkunden, die als "Alternativen" bezeichnet werden, von denen die meisten seit Jahrtausenden bekannt sind. Ihre rasant steigende Popularität und bemerkenswerte Zufriedenheit sind kein Zufall: Während die moderne Medizin vergessen zu haben scheint, wie wichtig es ist, zu sprechen und gehört zu werden, haben die traditionellen Heilkunden es nie aus den Augen verloren. Und der empirische Nachweis ihrer Wirksamkeit wird nach und nach durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt....

Hauptstudie des Artikels

Naykky Singh Ospina, Kari A. Phillips, Rene Rodriguez-Gutierrez, Ana Castaneda-Guarderas, Michael R. Gionfriddo, Megan E. Branda, Victor M. Montori. Eliciting the Patient’s Agenda- Secondary Analysis of Recorded Clinical Encounters. Journal of General Internal Medicine, 2018; DOI: 10.1007/s11606-018-4540-5